Sind wir nicht alle ein bisschen Osterhasen-Pädagogen?
Sind wir nicht alle ein bisschen Osterhasen-Pädagogen?
Vor kurzem ist die 3. Auflage von Diethelm Wahl (2013): „Lernumgebungen erfolgreich gestalten – Vom trägen Wissen zum kompetenten Handeln“, Bad Heilbrunn, erschienen. Dieses Werk, das auf den ersten Blick auf das schulische Lernen und die Weiterbildung zielt, bietet auch eine Fülle von klugen und wertvollen Anregungen für die betriebliche Bildung. Auch unsere Arbeit wurde in hohem Maße dadurch geprägt. Deshalb empfehle ich Ihnen dieses Werk in besonderem Maße.
Diethelm Wahl arbeitet in seinem Werk deutlich heraus, dass in Bezug auf die Begriffe „Lehren“ und „Lernen“ Bescheidenheit am Platz ist. Statt von Instruieren, Unterrichten oder lehren sollte besser von der Entwicklung bzw. Gestaltung von Lernumgebungen gesprochen werden.[1] Lernen muss nämlich jede Person selbst. [2] So beklagt Wahl das „Eunuchenproblem“ in der Lehre: „Sie wissen zwar wie es geht, aber sie können es nicht tun.“ Diesen Sachverhalt, den Renkl als „träges Wissen“ bezeichnet, ist auch das fundamentale Problem in den meisten betrieblichen Lernmaßnahmen, weil sich die dort „vermittelten“ Inhalte nur in sehr geringem Maße in den Handlungen der Mitarbeiter oder Führungskräfte niederschlagen.[3]
Wir sind nahezu alle über Jahrzehnte aus der Schule, aber auch der Weiterbildung, eine Lernkultur gewohnt, die vielfach durch Frontalunterricht und eine „Osterhasen-Pädagogik“ bestimmt wird. Mit diesem Begriff beschreibt Diethelm Wahl treffend die in Deutschland weit verbreitete, obwohl für das Lernen äußerst ungünstige, Praxis des fragend-entwickelnden Unterrichts. So wie an Ostern Eier versteckt werden, so versteckt die Lehrperson ihr wertvolles Wissen, und die Schüler müssen es durch Fragen geleitet suchen.[4] Anstatt das erforderliche Wissen verständlich und gut geordnet zu präsentieren, soll das Wissen „erarbeitet“ werden. Dazu stellt der Lehrer Fragen, auf welche die Schüler antworten sollen, damit sie in diesem Prozess zu eigenen Erkenntnissen kommen.
Auch in meiner eigenen Lehrerausbildung in den Siebzigerjahren mussten wir als Referendare seitenlange Unterrichtsentwürfe basteln, in denen wir die Fragen, bei deren Beantwortung die Schüler ihr eigenes Wissen aufbauen sollten, vorab formulierten, bis hin zu „Impulsen“, falls diese nicht gleich auf die Antwort kommen sollten. Dieses starre Unterrichtskonzept führte dann, vor allem bei Unterrichtsbeobachtungen durch Ausbildungslehrer, zu „perfekt“ inszenierten Schauspielen, die jedoch mit Lernen kaum mehr was zu tun hatten. In der Praxis sieht es dagegen ganz anders aus. So hat Wahl ermittelt, dass nur etwa 15 % der gesamten Planungszeit von Lehrern und Dozenten für die methodische Vorbereitung genutzt wird. Die Fragen entstehen also spontan und sind deshalb häufig nicht wirklich zielführend. Hinzu kommt, dass, wie Wahl nachgewiesen hat, die Lerngeschwindigkeit in einer Gruppe von erwachsenen Lernern mit dem Faktor 1:9 schwankt. Wie ich auch in meiner eigenen Lehrerpraxis beobachten konnte, führt dies im Regelfall dazu, dass der Lehrer sein Fragespiel mit 2 – 3 Schülern durchführt, die auf seiner „Wellenlänge“ liegen. Der Rest wird entweder gelangweilt oder überfordert. Zumindest hat der Lehrer dann anschließend das Gefühl, einen „spannenden“ Unterricht gemacht zu haben.
Für alle heutigen Lehrer und Dozenten ist die „Osterhasenpädagogik“ die dominierende Methode in ihrer eigenen Biografie gewesen. Offenbar sitzt deshalb diese Vorgehensweise bei den meisten so tief und so fest, dass alternative didaktische Konzepte es schwer haben, sich dagegen zu behaupten.
Wahl schlägt für die Gestaltung von Lernprozessen das „Sandwich“-Prinzip vor. [5] Damit charakterisiert er die Grundidee, dass zwischen die Phasen der Vermittlung von Informationen, die durchaus als gut strukturierte Präsentationen erfolgen können, Abschnitte der subjektiven Aneignung von Wissen eingeschoben werden. Fehlt diese innerliche Nachbearbeitung, wird kein eigenes Wissen aufgebaut. Dieser Wechsel von Informationsaufnahme und aktiver Verarbeitung erfordert ein ganzes Arsenal an Methoden, von denen Wahl eine Fülle beschreibt und bewertet.
Diethelm Wahl verdanken wir auch das KOPING-Konzept.[6] KOPING ist ein Kunstwort, das an das englische Wort „coping“ ( = „bewältigen“, „mit etwas fertig werden“) angelehnt ist. In der Stressforschung hat der Begriff „coping“ eine zentrale Bedeutung bekommen. Mit ihm werden jene Anstrengungen oder Bemühungen einer Person bezeichnet, die diese zur Bewältigung von Anforderungen, Belastungen oder Konflikten unternimmt. Die Lerner sollen befähigt werden, ihre Praxis als Mitarbeiter oder Führungskraft zu bewältigen. In kleinen Gruppen sollen sie im gegenseitigem Austausch, also kommunikativ und in der Form „kleiner Netze“ , sich gegenseitig in ihrer Entwicklung unterstützen. KOPING ist in unseren Projekten eine wesentliche Voraussetzung für effiziente Blended Learning Arrangements und Kompetenzentwicklungsprozesse.
Wir haben mit dem von Diethelm Wahl vor allem für die Bildungsarbeit in Schulen und in Hochschulen entwickelten „Doppeldecker-Prinzip“ , das wir in Hinblick auf die Erfordernisse der Kompetenzentwicklung in Unternehmen weiter entwickelt haben, sehr gute Erfahrungen gemacht.[7] Die Bildungsexperten erfahren dabei Blended Learning und Kompetenzentwicklung einmal aus Sicht eines Lerners, wechseln aber regelmäßig ihren Blickwinkel aus Sicht eines Entwicklers von Lernkonzepten. Dabei steht jeweils die Frage im Vordergrund, inwieweit die eigenen Lernerfahrungen in ein persönliches Projekt zur Entwicklung einer innovativen Lernkonzeption übertragen werden können.
Diese kurze Zusammenfassung zeigt, dass eine kreative und empirisch überprüfte Didaktik und Methodik nicht auf einzelne Zielgruppen beschränkt bleiben muss. Deshalb lohnt es sich, immer wieder über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen.