Neuromythen und Lernen
Neuromythen und Lernen
Die Schule ist zu einem Tummelplatz für Neuromythen geworden. Alles was Sie je über „linkshirnige“ und „rechtshirnige“ Lerner gehört haben, sollten Sie schnell wieder vergessen.[1]
Seit etwa 1990 versucht die Neurowissenschaft mit Hilfe der Erkenntnisse über die Funktion des Gehirns verbesserte pädagogische Lösungen, bis hin zu Ernährungstipps für effizienteres Lernen, zu schaffen.[2] Schaut man sich die Antworten der Hirnforschung genauer an, stellt man ernüchtert fest, dass es aus dieser Wissenschaft bisher keine Erkenntnisse gibt, die praktische Auswirkungen für die Gestaltung von Lernarrangements haben. Selbst für die Grundschule, auf die sich die Neurodidaktik vor allem fokussiert, fehlen wirklich verwertbare Erkenntnisse.
So stellte bereits 2005 das Bundesministerium für Bildung und Forschung fest: „Die häufig geäußerte Vorstellung, wonach die Hirnforschung zur Klärung theoretischer Kontroversen in der Pädagogik beitragen könnte, trifft nicht zu.“ [3] Die Gehirnforschung kann zwar ziemlich genau lokalisieren, wo etwas im Gehirn passiert, wenn wir lernen. Leider ist sie aber nicht in der Lage, individuelle Lernprozesse, als was geschieht, zu erklären.
Die bisher vorliegenden Befunde der neurophysiologischen Lernforschung sind nur selten eindeutig interpretierbar. Wenn überhaupt, lassen sich nur sehr allgemein Schlussfolgerungen ableiten, die sich nicht als Handlungsempfehlungen eignen.[4] Deshalb behelfen sich vor allem populärwissenschaftliche Autoren aus dem Bereich der Gehirnforschung damit, ihre „Erkenntnisse“ zum Lernen mit Ergebnissen aus dem Bereich der pädagogischen und psychologischen Forschung zu unterfüttern.[5]
Vermutlich ist aus heutiger Sicht von der Neurodidaktik nicht mehr zu erwarten. Dies hat mehrere Gründe:
- Nicht das Gehirn lernt, sondern der Mensch. Lernen ist im Endeffekt eine Entwicklung der Handlungsweisen der Menschen und damit kein Vorgang, der auf das Gehirn beschränkt ist. Der Mensch ist ein komplexes System, dessen Gehirn mit einer Vielzahl von Rückmeldeschleifen aus dem Körper und der Umwelt ausgestattet ist. Das Gehirn ist also nur ein, wenn auch entscheidendes, Teilsystem, das um weitere Faktoren, z.B. das Vorwissen und die Erfahrungen, aber auch um die Umweltbedingungen und die sozialen Beziehungen, erweitert werden muss, um Lernen zu verstehen. Die Reduktion des Lernens alleine auf das Gehirn sehe ich deshalb als nicht sinnvoll an.
- Lernen ist ein individueller Prozess, der bei jedem Menschen einzigartig verläuft. Die Neuropädagogik arbeitet aber überwiegend mit Aussagen zu Mittelwerten und Wahrscheinlichkeiten. Deshalb kann sie für die Gestaltung von individuellen Lernprozessen kaum nützliche Hinweise geben.
- Lernen ist ein hoch komplexer Prozess. Dagegen arbeitet die Neurowissenschaft mit Experimentalsituationen, die nur kleine Ausschnitte der Realität erfassen, so dass der Erkenntnisansatz in erheblichem Maße reduziert wird.
Es ist deshalb kurzfristig nicht zu erwarten, dass Lernen mit Hilfe der Gehirnforschung optimiert werden kann. Realistisch können wir gerade mal davon ausgehen, dass wir zukünftig typische Hirnfunktionen besser verstehen können.[6] Offensichtlich scheint es damit auch möglich zu sein, Lernstörungen früher zu erkennen. Spannend wird es erst werden, wenn es der Neurodidaktik beispielsweise gelingt, uns Erkenntnisse darüber zu liefern, was sich in den Lernprozessen verändert, wenn wir nicht mehr schriftlich kommunizieren und mit neuen Arbeits- und Lernweisen, die wir heute vielleicht noch gar nicht kennen, konfrontiert sind.
Die Neurowissenschaft kann uns heute noch sehr wenig darüber sagen, wie das Gehirn Wahrnehmungen und Informationen verarbeitet, wie Emotionen und Denkprozesse entstehen und wie Erfahrungen interiorisiert werden, d.h. wie Kompetenzlernen tatsächlich stattfindet. Aber genau dies sind die spannenden Fragen für die Kompetenzentwicklung.
[1] Madeja, M. (2015), FAZ 4. 3. 2015 N2
[2] vgl. im Folgenden ebenda
[3] BMBF (2005), S. 7
[4] BMBF (2005), S. 7 ff.
[5] vgl. u.a. Spitzer, M. (2012) oder Hüther, G. (2006)
[6] BMBF (2005) S. 126